Doppelreduzierung (1)
- J. CHEN
- 28. März
- 3 Min. Lesezeit
Was ist die „Doppelreduzierung“? – Eine tiefgreifende Bildungs- und Gesellschaftsreform in China
Die sogenannte „Doppelreduzierung“ (双减, shuāng jiǎn) ist eine Bildungsreform, die im Juli 2021 in China eingeführt wurde. Sie zielt darauf ab, die schulische Belastung von Schülern in der Pflichtschulbildung sowie den Druck durch außerschulische Nachhilfe drastisch zu reduzieren. Diese Maßnahme markiert nicht nur einen tiefen Einschnitt im chinesischen Bildungswesen, sondern steht auch im Zentrum eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels. Im Kern geht es um eine Neuausrichtung der Bildungspolitik, die zugleich soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Interessen und kulturelle Erwartungen betrifft.

1. Hintergrund: Die Wurzeln des Problems
Chinas Bildungssystem war lange von einem intensiven Leistungsdruck geprägt. Ein „Score-zentriertes“ Prüfungssystem, starker sozialer Aufstiegswille und der Glaube, dass Bildung der Schlüssel zur Zukunft sei, führten zu einer Bildungs-Überhitzung – auch bekannt als „Bildungs-Innerlichkeit“ (教育内卷). Eltern investierten massiv in Nachhilfe, teilweise bis zu 30 % ihres Einkommens, um ihren Kindern Vorteile zu verschaffen. Zugleich florierte ein kapitalgetriebener Nachhilfemarkt, der durch aggressive Werbung Bildungsängste schürte und öffentliche Schulen unter Druck setzte.
2. Was umfasst die Doppelreduzierung konkret?
Die „Doppelreduzierung“ verfolgt zwei zentrale Ziele:
Reduktion der schulischen Arbeitsbelastung: Weniger Hausaufgaben, mehr Pausen, besseres Zeitmanagement im Schulalltag.
Reduktion außerschulischer Nachhilfe: Verbot kommerzieller Nachhilfeinstitute im Bereich der schulischen Hauptfächer, insbesondere für Grund- und Mittelschüler.
Damit verbunden ist eine Stärkung des öffentlichen Schulsystems, mehr staatlich organisierte Nachmittagsbetreuung sowie der Versuch, das Bildungssystem fairer und weniger wettbewerbsorientiert zu gestalten.
3. Folgen und Herausforderungen
a) Der Einbruch des Nachhilfemarkts
Mit dem Verbot der privatwirtschaftlichen Nachhilfe in Kernfächern verloren über 3 Millionen Menschen ihre Arbeit, darunter viele gut ausgebildete junge Akademiker. Die Umstellung auf neue Berufe (z. B. öffentliche Schule, Erwachsenenbildung) war schwierig – verbunden mit deutlichen Gehaltseinbußen und hohem psychischem Druck.
b) Die neue Unsicherheit der Eltern
Zwar gaben laut Umfragen rund 85 % der Eltern an, mit schulischen Nachmittagsangeboten zufrieden zu sein, doch viele wandten sich stattdessen neuen Formen von außerschulischer Förderung zu – etwa Einzelnachhilfe oder Kurse in Musik, Programmieren und Sport. Die „Bildungsangst“ blieb bestehen, verschob sich aber in neue Bereiche.
c) Lücken in der Umsetzung
Nicht alle Regionen verfügen über die gleichen Ressourcen. Während Städte wie Peking und Shenzhen schulische Nachmittagsprogramme umfassend ausbauten, blieben ländliche Regionen vielfach unterversorgt. Zudem wurde die Reform oft durch Umgehungsstrategien (z. B. Unterricht über Apps oder Auslandsplattformen) ausgehöhlt.
4. Lösungsansätze und politische Maßnahmen
Umschulung und Jobvermittlungen für entlassene Lehrkräfte, mit Sondermaßnahmen und Förderprogrammen in vielen Provinzen.
Qualitätsverbesserung im Schulunterricht, durch moderne pädagogische Konzepte (z. B. projektbasiertes Lernen, differenzierte Aufgabenstellungen).
Vielfältige Nachmittagsangebote durch Kooperation mit Dritten (Vereine, Kulturinstitutionen, ehrenamtliche Initiativen).
Bessere Lehrkräfte-Unterstützung durch Bürokratieabbau, mentale Gesundheitsangebote und strukturelle Reformen.
Anpassung des Prüfungssystems durch stärkere Betonung ganzheitlicher Kompetenzen (nicht nur Noten).
5. Langfristige Vision: Bildung als Motor für gesellschaftliche Transformation
Das eigentliche Ziel der „Doppelreduzierung“ ist nicht nur Entlastung, sondern ein grundsätzlicher Wandel des Bildungsverständnisses: Weg von der Notenfixierung, hin zu einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung. Bildung soll wieder Chancengleichheit fördern – nicht soziale Spaltung. Damit dieser Wandel gelingt, braucht es jedoch nicht nur gute Gesetze, sondern ein Zusammenspiel von Regierung, Schulen, Eltern und Gesellschaft.


Fazit
Die „Doppelreduzierung“ ist mehr als eine Reform – sie ist Ausdruck eines neuen bildungs- und gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses in China. Trotz aller Herausforderungen und Widerstände steht sie für den Versuch, den Bildungsdruck zu senken, soziale Gerechtigkeit zu stärken und eine gesündere Lernkultur zu etablieren. Ob dieser große Wandel gelingt, hängt davon ab, ob Politik, Gesellschaft und Familien bereit sind, alte Denkmuster zu überwinden – und gemeinsam eine neue Bildungszukunft zu gestalten.
(Quelle: hanspub.org/ / sohu.com / jiangmen.gov.cn / thepaper.cn / rsj.beijing.gov.cn u.ä.)
Dr. Jianfeng Chen
HEIDELBERG.C.H.E.N. & CAN
2025-03-28
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